Christiane Görner

Ma Rosa's Büchse

Kunstprojekt 2020

grafitti-kottiIm Lehrplan des Seminars für Waldorf Päda­gogik Berlin steht am Ende des ersten Jahres ein vier­wöchiges Kunst­projekt. Die Studie­renden können zwischen drei Gestal­tungs­prozessen wählen: Stein­hauen, Schau­spiel, Eurythmie. Das Kunst­projekt braucht einige Wochen Vorlauf, die Gege­ben­heiten müssen geschil­dert und ver­stan­den werden, dann die individu­elle Wahl des Projektes, dann die ganze Logistik.
Mitte Mai 2020 sollte es beginnen. Mitte April war es mehr als fraglich, ob im gegebenen Rahmen der Prävention - und Sicherheitsverordnungen gegen das Corona Virus eine Realisation möglich ist. Es war im Grunde aussichtslos. Am ehesten wäre noch das Steinhauen denkbar gewesen, aber Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln täglich quer durch Berlin? Schauspieltraining und Eurythmie - ausgeschlossen. Keine Präsenz im Seminar möglich. Völlig verschiedene Voraussetzungen bei den TeilnehmerInnen, erschwerte Kommunikation, allgemeine Verunsicherung. Aber die gesetzlichen Verordnungen änderten sich immer mal wieder, also gaben wir die Hoffnung nicht auf und hielten den Ball in der Luft. Dann haben wir es gewagt, allerdings auf andere Art als bisher.

Es ist innerhalb der Kunstprojekte immer offen, wie viel jede/r einzelne ermöglichen kann. Aber nun war die individuelle Ermöglichung Kernthema des Projektes, wurde zum eigentlichen Arbeitsmaterial. Vier Wochen Zeit, den äußeren Härten mit etwas Innerem zu begegnen, „inniglich“ zu werden, dem inneren Werk der „en - er - geia“ Raum zu geben.

Es war immer wieder ein Gefühl, wie schwerelos im All Holz hacken. Die Chance: interdisziplinäre Begegnung verschiedener Künste und ... überhaupt ganz neue Formate. Als das Kunstprojekt begann, mussten wir noch davon ausgehen, dass keinerlei Aufführungen mit Publikum, noch nicht einmal gemeinsames Proben im Seminar möglich sein würde. Es bildeten sich Teams, mindestens hatte jede/r eine/n Zeugin, einen Zeugen des eigenen Prozesses. Manche arbeiteten bis zum Schluss ausschließlich online. Andere begannen ab der dritten Woche ins Seminar zu kommen um dort zu malen oder zu proben. Es war - unter Einhaltung strenger Hygieneregeln für uns alle - dann doch irgendwie möglich. Sich wieder zu begegnen war schön und freudig, aber eine gewisse Befangenheit blieb. Immer dieses Abspüren: was ist möglich an Begegnung… innerhalb der Grenzen des offiziell Gestatteten steckte ja jede und jeder noch einmal die eigenen Räume ab. Äußerlich atmete man schon wieder in einem Raum. Innerlich war immer noch „Luft anhalten“ spürbar.

Weil sich durch die Bedingungen alles so vereinzelte, hatten wir im Vorfeld ein gemeinsames Thema gewählt. Eine Aussage aus einem Vortrag Rudolf Steiners (Allgemeine Menschenkunde 2. Vortrag), sinngemäß so lautend, dass wir den Kindern nur zwei Dinge beibringen können: Atmen und das richtige Verhältnis von Schlafen und Wachen.

grafitti-kottiAlso DIE rhythmisierenden Lebensprozesse, einmal eher vegetativ, einmal eher mental, da schlafen, wachen, träumen die Bewusstseinszustände des Menschen darstellen, sein Erleben einer WIRKLICHKEIT. Und in der dritten Woche des Kunstprojektes entdeckte ich auf dem U-Bahnsteig der U8 am Kottbusser Tor dieses Grafitti und schaffte es am nächsten Tag gerade noch rechtzeitig es zu fotografieren, tags darauf wurde es übermalt.

Das Erlebnis des Rhythmischen ist ZEIT gebunden, oder spielt sich jedenfalls im Zeitlichen ab. Ein Bild kann ja auch Rhythmisches zeigen, aber um das wahrzunehmen setzen wir es in Zeit um. Behaupte ich. Und die Zeit schien ja eine Weile still zu stehen durch den Lockdown. Vielleicht wurde sie dadurch Bild.
Herz_2.jpg Herz_1.jpgVon vielen Menschen habe ich in Gesprächen gehört, dass die Tage lang­samer und gleich­zeitig schneller ver­gehen. Da habe ich noch fol­gen­de schö­ne Motive gefunden:

Ich hatte den Studierenden, die sich mit Hör - und/oder Schauspiel beschäftigen wollten, Szenen aus dem Stück „Die eine und die andere“ von Botho Strauss vorgeschlagen.

Wie immer führte mich die intensive Beschäftigung mit einem Kunstwerk in die Wunderwelt der Phantasie, die dann beginnt in die „Alltagswelt“ hinein zu ragen, sie zu verwandeln. EINE Sache möchte ich heraus greifen: Ich las morgens eine der Szenen des Stückes und traf wieder auf einen Gegenstand (gegen wen steht da eigentlich was), der immer wieder in Strauss Stücken auftaucht: der Stuhl. In einem Monolog von „Lotte“ in „Groß und klein“ wird der Stuhl nicht nur zum szenischen Mittelpunkt (wie in „Räumchens Stühlchen“ aus „Kuss des Vergessens“) sondern verwandelt sich zum Gesprächspartner in Form des Allmächtigen höchstpersönlich. Vorher schimpft sie mit dem Stuhl:“Alter! Fauler! … „Nur du und ich, wir sitzen hier noch fest: du auf Erden, ich auf dir.“

Immer wieder das Sitzen als Bild des „nicht gegangen seins“. Schwellen Momente. Stillstand. Durch den Schock, das globale Atem Anhalten durch etwas letztendlich nicht Greifbares, was eben dann „Corona Virus“ genannt wurde oder „Covid 19“ bekamen diese Metaphern für mich wieder eine andere Dimension. Übrigens ist das IMMER Thema des Kunstprojektes (vielleicht der Kunst an sich): was kündigt sich an? Wie wird das Zukünftige lesbar im JETZT? Was kann (nur) ICH aus diesem Zukünftigen in die Gegenwart hinein holen und WIE: Gedanken, Wahrnehmungen, Empfindungen, Absichten….

Ich hatte also morgens die Szene „Marter“ in dem Stück „Die Eine und die Andere gelesen“ und war sehr inspiriert von den folgenden Sätzen:

„So ein Stuhl ist eben nicht bloß ein Stuhl. Wenn du genauer hinsiehst, erkennst du die Leere, die auf dem Stuhl sitzt. Die Leere sitzt breit wie nur irgendwer auf dem Stuhl. Siehst du das? ….. „ „… - Es ist schwer, die Dinge zu verstehen, die schlichten, die nicht zu viel und nicht zu wenig von sich hermachen. Den Stuhl, wenn du ihn dir betrachtest, den versteht der Mensch letztlich nicht. Er steht da und zeigt dir, dass etwas nicht da ist.“

Ich fuhr mit dem Fahrrad nach Berlin Mitte. Die Stadt seltsam leer und still, wenig Autos, wenig Menschen. Ich war innerlich sehr bewegt, teils durch die imaginativen Prozesse dieser (Kreuzigungs-) Szene aus dem Stück von Botho Strauss, teils von Erinnerungen an einen Vortags nicht ausgetragenen Zwist um das alte Thema: „Glauben ist nicht Wissen.“ Also die Frage nach WAHRHEIT, die ja eben untrennbar ist von der Frage nach WIRKLICHKEIT, die wiederum eine Frage des wahrnehmenden Bewusstseins ist, das schläft, träumt oder wacht. Für diesen Konflikt sah ich keine Lösung, suchte aber. Für die Szene kamen mir viele Ideen, wie sie gespielt werden könnte, immer mehr Zusammenhänge und Bedeutungen fächerten sich auf - meine Seele war wie ein Garten, in den die Sonne scheint und die schönsten farbigsten Blüten sich öffnen.

In mein Tagebuch schrieb ich abends: “Die Abwertung in dem Satz „Ja, aber das ist nur Glauben.“, macht mich wütend. Wütend auf die so genannte „Wissenschaftlichkeit“. Und mir wurden Problemfelder klar. Jeder liest, versteht, ordnet anders zu. Das ist gut. Jeder projiziert bei dem anderen Gegenbilder. Das ist schlecht. Wenn ich Angst habe meinen Standpunkt einzunehmen und zu vertreten, weil ich erlebe, dass er per se niemals als STANDpunkt anerkannt wird, bin ich nicht mehr frei, macht mir das noch mehr Angst.

Dann, ich weiß nicht mehr genau, wie es kam, erinnerte ich mich an den Schluss des Stückes und den letzten Satz: “Sitzen bleiben!“ Und das traf mich wie ein Paukenschlag. Dieses Motiv des Stuhles, des Sitzens, der unerbittlichen STATIK bei Strauss und dass der Mensch diese Leere ist und auch derjenige ist, der sie füllt, in Kauf nimmt, die Bindung, die Erdung, die Unfreiheit, die Inkarnation, die Freiheit… VorausgeSETZT wir STEHEN einander wohlwollend gegenüber; (und das ist ja so) wird es doch möglich sein, den Anderem und mich selbst Anders sein zu lassen.“

Ich kann nicht wirklich in Worte fassen, was ich in diesem Moment mit dem Herzen verSTAND, aber ich fühle jetzt noch die Wucht mit der es mich traf, so dass mir fast Tränen kamen, die ich aber unterdrückte, wegen James Joyce, der sagte mal: „Sentimentalität ist die Unfähigkeit Verantwortung zu übernehmen“. Und da fuhr ich schon an der Stadtbibliothek vorbei aufs neue Schloss zu, biege rechts ab und sehe einen Stuhl da stehen. Neben einer Laterne und einer Ampel. Ein blauer Plastik-Gartenstuhl mit Armlehnen. Leer.

Stuhl_Beste „So ein Stuhl ist eben nicht bloß ein Stuhl. Wenn du genauer hinsiehst, erkennst du die Leere, die auf dem Stuhl sitzt. Die Leere sitzt breit wie nur irgendwer auf dem Stuhl. Siehst du das? ... „

Und ich konnte mich an den Arbeiter erinnern, der kürzlich darauf gesessen hatte mit Blick auf das Portal des neuen Fake Schlosses, auf die Brandstellen, die geborstenen Plastik Säulen, die angekohlten Wände. Es hatte ja gebrannt auf der Baustelle. Der Fake. Der angekohlte Fake.“

Ich versuchte noch mehrmals den Stuhl zu fotografieren, vor allem hätte ich gerne einen sitzenden Menschen darauf fotografiert, aber ich war immer auf dem Weg und eilig. Einmal sah ein Arbeiter, dass ich den Stuhl fotografiere und war misstrauisch. Ich erklärte ihm die Umstände und er hörte sogar eine Weile zu. Aber als ich ihn fragte, ob ich ihn vielleicht - für dieses Kunstprojekt - sitzend fotografieren dürfe, wehrte er ab, das „habe sein Chef sicher nicht gern.“

Vor der ersten Szenenprobe einer Dreierszene, das war Mitte der dritten Woche des Kunstprojektes, stellten wir für auch wieder Stühle, als erstes Bühnen BILD. Wie die Stühle zueinander stehen, hat eine Gebärde, erzählt schon etwas.

StuehleVorabend1
StuehleVorabend2
StuehleVorabend3

... - Es ist schwer, die Dinge zu verstehen, die schlichten, die nicht zu viel und nicht zu wenig von sich hermachen. Den Stuhl, wenn du ihn dir betrachtest, den versteht der Mensch letztlich nicht. Er steht da und zeigt dir, dass etwas nicht da ist.“

Stuhl_NachfolgerAls das Kunstprojekt abgeschlossen war und ich tags darauf an derselben Stelle vorbei fuhr gab es wieder eine Überraschung, die mich berührte:

Da stand ein anderer Stuhl! Als sei mit den vier Wochen für das Kunstprojekt auch die Zeit des Gartenstuhles abgeLAUFEN. Auf der Heimfahrt stand dann an der gegenüberliegenden Ecke (kein Fake) eine Frau mit ZWEI Stühlen. Leider wollte sie sich auch nicht fotografieren lassen. Sie lachte und sagte: “Sonst gerne, aber die habe ich eben geschenkt bekommen, das waren Ausstellungsstücke, das fänden die (sie zeigte mit dem Kopf nach links) bestimmt seltsam, wenn sie sehen, dass ich mich damit fotografieren lasse. Ein ander' mal gern!“

KorbstuhlUrbanUnd dann tauchten überall Stühle auf. Und ich dachte: „NACH dem Projekt ist VOR dem Projekt.“

... - Es ist schwer, die Dinge zu verstehen, die schlichten, die nicht zu viel und nicht zu wenig von sich hermachen. Den Stuhl, wenn du ihn dir betrachtest, den versteht der Mensch letztlich nicht. Er steht da und zeigt dir, dass etwas nicht da ist.“





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