Christiane Görner

Ma Rosa's Büchse

WÜRDE

Das ereignete sich in der U-Bahn Richtung Wittenau morgens um 8 Uhr. Ich bin nicht sicher, wann und wo genau es begann… vielleicht schon am Kottbusser Tor, wo ich selbst einstieg, eher aber am Moritzplatz. Heinrich-Heine-Straße wird es nicht gewesen sein, sonst scheint mir die Zeitspanne zu kurz bis zum Finale am Alexanderplatz.

Es handelte sich in jedem Falle um einen kleinen Zeitraum, höchstens fünf U-Bahnstationen.

Ich saß ganz vorne im vordersten Wagen auf so einem Klappsitz, direkt an der Tür mit dem Rücken zum Bahnsteig. Auf der anderen Seite der noch offenen Tür, standen mir zugewendet zwei Menschen, vielleicht ein Paar. Sie unterhielten sich völlig entspannt. Zwischen ihnen und mir huschte etwas durch, ein schon eindeutig menschliches Wesen, ganz sicher ein Mensch, sogar deutlich ein Mann, aber gleichzeitig so gebückt und versteckt in die Kapuze seines dunkelgrünen Parka und mit einer so seltsamen Raschheit, dass es etwas Elementarisches hatte. Ich könnte sagen: wie ein angesogener Lufthauch, in die mir diagonal gegenüberliegende Ecke.

Zwischen ihm und mir waren also etwa 2 Meter Abstand und natürlich die Stange zum Festhalten, die ja immer in der Mitte dieser Standflächen vor den U-Bahntüren ist. Ist die da immer? Ich erinnere keine, aber das liegt sicher daran, dass mich in diesen ca. acht Minuten vor allem die Frage der Existenz dieses Menschen beschäftigte. Ich betrachtete ihn völlig ungeniert. Allerdings hatte ich mich zuvor vergewissert, ob andere Fahrgäste es auch tun oder mir zuschauen, wie ich es tue. Keins von beidem war der Fall. Außerdem schien es ausgeschlossen, dass er selbst mich bemerken, oder gar meinen meinen Blick erwidern würde.

Im Nachhinein erstaunt mich meine Unbefangenheit trotzdem; dass ich es in keiner Weise dabei als voyeuristisch empfand, diesen Menschen unverwandt anzuschauen. Ich kann nur mutmaßen, dass er sowohl außerordentlich präsent als auch gänzlich abwesend war.

Wie gesagt: niemand außer mir schien ihn zu sehen. Irgendwann später schaute ein kleines Mädchen, auf dem Schoß seines Vaters sitzend, dessen dunkelblondes Haar ein schlichter Plastik - Haarreif nach hinten bändigte, kurz zu ihm hin, weiter nichts. Das Haar des Mädchens fiel übrigens offen herab. Sie plauderte munter mit ihrem Vater.

Der Mann im grünen Parka stand mir und der hinter mir noch offenen Tür zugewendet, musste also beim Einsteigen eine Kehrtwendung gemacht haben. Das erinnere ich nicht, wahrscheinlich ging es einfach zu schnell. Aber ich sehe noch, wie im letzten Moment dieser Punktlandung eine große viereckige Plastik-Einkaufstasche rechts aus seiner linken Hand auf den Boden fällt. Sie schien leer zu sein. Trotzdem stand sie - ebenso wie er- sofort da wie eingepflanzt, ein ihm zugehöriger Kontrapunkt, rechtwinklig leuchtend in Weiss, Gelb, Blau und Rot. Mit ganz leicht schwankendem Körper zog er sich hastig eine kleine schwarze Maske über die Nase, vielleicht auch über den Mund, das war nicht zu erkennen. Sein Gesicht tauchte nur ganz kurz auf. Ich glaube, er hatte einen Bart. Was ich noch genau erinnere, sind seine Hände. Sie waren ähnlich grün wie der Parka. Er hielt die geöffneten, gekrümmten Finger mit den Handflächen nach oben nahe vor seiner Brust und versuchte mit der linken Hand am Nagelhäutchen des rechten Daumens etwas zu entfernen. Die Finger waren alle wie verkrustet oder mit einem Hauch von Schildkröten-Panzer überzogen.

Der kleine Einriss des Nagelhäutchens am rechten Daumen… - ausgetrocknetes, rotes Rinnsal im Flussbett einer Miniaturschlucht. Der Mann lenkte seine Aufmerksamkeit dorthin. Jedenfalls sah es aus, als versuche er es. Aber der Blick in Richtung seiner Hände und die kaum gelungene Berührung der eigenen Finger, schienen mehr eine Art Zugangstor zu bilden, um gleichzeitig in sich hinein und aus sich heraus zu sinken, beziehungsweise zu steigen. Das ist ja in diesem Falle alles nicht ganz zutreffend, zumal ich nicht bestimmen könnte, woran ich erkannt haben will, dass er in eine Art Schlafzustand wechselte: am Innehalten der Fingerbewegung? Am noch etwas tiefer Sacken des Rumpfes? Vielleicht. Woran sieht man den Bewusstseins-Zustand eines anderen Wesens? So luftig er gerade herein geweht war, bildete er nun unsichtbare Pfahlwurzeln, die sich in eine ebenso unsichtbare Felsenlandschaft saugten, stand ohne sich festzuhalten, ohne zu schwanken, die Hände unbewegt vor der Brust. Nur die Krümmung seines Rumpfes variierte in Zeitlupe oder besser: in einem Tempo außerhalb der Zeit. Es erinnert mich jetzt an den zauberhaften aber auch unheimlichen Eindruck eines großen Säulen Aquarium mit durchsichtig - schwebenden, zart pulsierenden Quallen. Auf der Schwärze des Hintergrundes wirkten die weißlich körperlosen Atemorgane wie im Weltall schwebend, eine zeitlose Daseinsform reiner Bewegung.

Zeitlosigkeit könnte eines der Schlüssellöcher ins Bewusstsein anderer Wesensformen sein.

Ich war froh, dass das blonde Kind auf dem Schoß seines Vaters den Mann nicht zu sehen schien. Warum?

Weil ich das Gefühl habe, Kinder sollten keine Menschen sehen, die irgendwie „anders“ sind? Nein, das ist es nicht. Gar nicht? Ich weiss, dass ich keinerlei Befangenheit spüre, Kindern gegenüber, die mit Befremden, vielleicht sogar mit Abwehr oder Spott auf einen andersartigen Menschen schauen, die Würde dieses Menschen zu verteidigen. Dieses „Fremd Schämen“, das mich in der U-Bahn überkam, hat wohl eher mit meinem inneren Urteil darüber zu tun, was den Verlust dieser „Würde“ bedeutet. Was ich als so „unwürdig“ und einem Kind nicht vermittelbar empfinde, könnte ein willkürlich herbeigeführtes Hinaustreten aus sich selbst sein.

Die ganze Problematik der menschlichen Freiheit bis hin zur letzten Konsequenz der Selbstzerstörung hängt ja daran. Dass die Würde des Menschen NICHT maßgeblich oder jedenfalls nicht nur im Recht auf sein Leben besteht, sondern in letzter Konsequenz im Recht auf den eigenen Tod. Und dass die Selbstentäußerung - in welcher Form auch immer - Menschen ermöglicht, ihre Würde zu bewahren, sei es auch um den Preis der physischen Gesundheit und des „normalen“ Lebens. Dass der erste Paragraph des Grundgesetzes also die Würde des Menschen schützt, nicht primär sein Leben. Und dass da etwas ganz und gar Unbewältigtes ist, für das ich keinen Begriff habe.

Jetzt, wo ich dies schreibe, erkenne ich, wie kostbar mir eine unmittelbar gestellte Frage des Mädchens in der U-Bahn sein könnte. Liegt doch in der Frage immer ein Keim der Antwort. Dies mit heiligem Ernst fühlend, ist vieles zu verantworten. Und dennoch…. gibt es sicher Momente, wo ich alles tun würde, um zu verhindern, dass dem Kind etwas zugemutet wird, was so Überwältigend ist, dass die Frage im Keim erstickt wird.

Das ist nochmals ein anderer Blickwinkel: da dieser Mann sich herauslöste aus seinem Leib, stehend in Tiefschlaf verfallend, war er auch …. wie sagt man… ? Ich meine nicht „unberechenbar“. Ich meine eher dieses „nicht zurechnungsfähig“. Ich fühlte mich irgendwie auch verantwortlich. Das kam mir aber nicht zu Bewusstsein. Beobachtet habe ich mich bei meinem inneren Tasten danach, wo „er“ jetzt ist. Und ob ich dort auch sein könnte, ihm folgen könnte dorthin oder es bereits mit ihm dort bin, sonst würde ich ihn ja nicht wahrnehmen. Oder?

Am Alexanderplatz geschah dann zunächst dasjenige, was ich schon des öfteren beobachtet habe, daher erwarte und nichtsdestotrotz überrascht bin darüber, dass es mich immer wieder beeindruckt.

Die U- Bahn hielt, die Türe öffnete sich, im Bruchteil einer Sekunde war der Mann aller schlafenden Schwere ledig, die Einkaufstasche flog in seine Hand und er wehte hinaus, streifte aber irgendwie das Paar, das noch an der Türe stand. Nun geschah das erste, was mich stutzig machte: er wandte sich rasch um und sprach mit deutlich vernehmbarer Stimme: „Entschuldigung“. Das Paar nickte dem Verschwundenen gelassen nach, huldvoll wie zwei Engel. Plötzlich sah ich im rechten Augenwinkel einen Arm. Ein Körper stieß so dicht neben mir gegen den Türrahmen, dass ich reflexartig auswich und mich ganz in die Ecke klemmte. Ich erkannte den grünen Parka und für den Bruchteil einer Sekunde durchfuhr mich Angst, es könne etwas Gefährliches geschehen. Aber da glitt schon der Kinderwagen durch die Tür, ausgestattet mit der üblicherweise dazugehörigen Mutter.

Arm und Körper spurlos fort, die Tür schloss sich, die Bahn fuhr weiter. Die Mutter hatte sich übrigens mit keiner noch so kleinen Geste bedankt, so, als habe auch sie den Mann gar nicht gesehen. Es ging wohl eher alles zu schnell. Aber ich war voller Staunen über all das und fühlte mich beschämt, beschenkt und ermutigt.

Was ist Anwesenheit, was ist Würde? Dieser Mensch, an dessen Zurechnungsfähigkeit und Präsenz ich herum gezweifelt hatte, handelte mit größter Selbstverständlichkeit menschlicher und geistesgegenwärtiger als viele andere. Mein Bewusstsein hat sich durch ihn erweitert. Ich bin ihm von Herzen zu Dank verpflichtet.





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